„‘Karaganda‘, las sie. Noch nie hatte sie von Karaganda gehört‘.“
Moment mal! Ich unterbreche meine Lektüre und schaue auf den Monitor im Gang des Fliegers, der mich gerade nach China bringt.
Karaganda?
Richtig – genau das Wort steht auf der Anzeigentafel. Der Name einer Stadt, die an der Flugroute nach Shanghai liegt. Verwundert werfe ich einen Blick aus dem Fenster und erspähe eine unwirtliche Landschaft inmitten Kasachstans.
Karaganda! Heute belebte Industriestadt, früher Ort eines berüchtigten Strafgefangenenlagers. Und einer der Schauplätze ausgerechnet des Romans, den ich auf diese lange Reise mitgenommen habe: „Der Geiger“ von Mechthild Borrmann.
Zufälle gibt’s, die gibt es gar nicht!

Auch Mechtild Borrmann guckt ungläubig, als ich ihr davon erzähle. Ich treffe die Autorin an einem sonnigen, aber windigen Nachmittag in einem Café im Bürgerpark in Bielefeld. Wie sie da sitzt, in ihrer gelb-schwarz gemusterten Jacke mit dem passenden Schal, strahlt sie auf Anhieb eine unübersehbare Präsenz aus. Und wenn Sie übrigens bislang der Meinung waren, dass es diese Stadt doch gar nicht gibt, kann ich Sie gleich eines Besseren belehren: Bielefeld ist nicht nur die Heimat von Dr. Oetker, sondern eine lebendige Stadt mit vielen jungen Leuten, ausgebauten Radwegen und vielen grünen Erholungsgebieten, die zum Verweilen einladen.
Kein Wunder, dass sich die Schriftstellerin seit vielen Jahren hier wohl- und zuhause fühlt. Auch wenn beim Schreiben vor dem inneren Auge der gebürtigen Kölnerin immer noch die Landschaft erscheint, in der sie aufgewachsen ist: Kleve am Niederrhein – eine Gegend, in der viele ihrer Geschichten und Krimis angesiedelt sind.
Aber auch so manch andere Orte hat Mechtild Borrmann im Zuge gründlicher Nachforschungen selbst in Augenschein genommen – zwar nicht Karaganda, dafür aber Kiew, als sie Material für ihren Tschernobyl-Roman „Die andere Hälfte der Hoffnung“ sammelte. Auch deshalb sind die Kriegsnachrichten aus der Ukraine für sie gerade besonders schwer erträglich. „Bei der Recherche habe ich damals Studenten kennengelernt, die für mich übersetzt haben. Sie sind mittlerweile nach Polen geflohen“, erzählt sie mit belegter Stimme „voller Sorge um ihre Angehörigen, die noch dort sind“. Nicht ausmalen möchte sie sich auch das Schicksal der Soldaten, die in der verseuchten Erde rund um das havarierte Atomkraftwerk Schützengräben ausheben mussten…
Es sind eben immer wieder die Menschen, die direkt Betroffenen, denen die Neugier, das Interesse und das Mitgefühl der 62jährigen gelten – im realen Leben wie in der Fiktion.
Historische Stoffe oder ein Stück Zeitgeschichte mit einer spannenden Rahmenhandlung zu verknüpfen und aus dem Blickwinkel der einzelnen Figuren zu erzählen – das ist eine Kunst, die Mechtild Bormann grandios beherrscht. Nicht von ungefähr wurde sie für „Wer das Schweigen bricht“, erschienen 2011 im Pendragon Verlag, mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet und erhielt als erste Deutsche für den bereits erwähnten „Geiger“ den renommierten französischen Publikumspreis „Grand Prix des Lectrices“.
Dass der Erfolg nicht in den Schoss fällt, sondern hart erarbeitet werden muss, kann die Schriftstellerin wie die meisten ihrer Kollegen nur bestätigen. Es spricht für Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, dass Mechtild Borrmann nicht lange überlegt, ob ein Stoff beim Publikum ankommt. Hat sie ein Thema erst mal gefunden – oder umgekehrt! – beginnt eine lange akribische Recherche, die in der Regel ein Jahr dauert: „Es gibt diesen Moment, da weiß ich, daraus will ich etwas machen.“ Erst danach fängt die Schreiberei an – schön diszipliniert am Schreibtisch fünf Tage die Woche jeweils vormittags und abends mit Stift und Papier. „Von wegen große Freiheit 7, schreiben zu können, wann ich will …“, gesteht sie lachend.
Wichtig ist ihr, die erfundenen Figuren so zu gestalten, dass sie plastisch und lebendig werden. „Früher bin ich stundenlang alleine im Wald spazieren gegangen und habe mit ihnen geredet. Wer mir dabei begegnet ist, wird sich gedacht haben, ich sei nicht ganz richtig im Kopf“, schmunzelt sie. Und fügt an, dass das heutzutage, wo alle Welt mit Kopfhörern im Ohr herumlaufe, wohl kaum noch auffiele. Erst wenn die Figuren morgens mit ihr frühstücken würden, seien sie gut.
Geschrieben wird kapitelweise. Dann kommt das Wichtigste – die Korrektur. „Die besteht bei mir aus Streichen, Streichen und nochmals Streichen.“ Sie folge damit dem Prinzip der guten Soße – einkochen, reduzieren und nochmals reduzieren.*
Stichwort „Soße“: Mechtild Borrmann war nicht immer Schriftstellerin, sondern fünf Jahre lang auch Wirtin des „Raben“ in Bielefeld, wo sie während ihrer Ausbildung zur Groß- und Außenhändlerin („Ich hatte das Gefühl, mal etwas Ernstzunehmendes tun zu müssen“) vorher bereits gekellnert hatte.
Überhaupt ist ihre Autorenkarriere alles andere als klassisch. Als Jugendliche hat sie nie davon geträumt, Schriftstellerin zu werden. Groß geworden in einer Zeit, in der es immer noch hieß, Mädchen heiraten ja sowieso – ein Satz, den auch ich des öfteren zu hören bekam – wurde sie zunächst Erzieherin. War später für Vormundschaften zuständig, wechselte in die Drogenberatungsstelle, war Heilpädagogin in Bethel und baute für verhaltensauffällige Kinder dort eine Einrichtung auf. Gestalttherapeutin, Theatertanzpädagogin, Choreographin und Regieassistentin – die Liste der Betätigungsfelder, in denen Mechtild Borrmann sich immer wieder aufs Neue herausforderte, ist lang.
Alles gut und schön zur jeweiligen Zeit – aber nie das, was sie auf Dauer machen wollte.
Die Wende kam, als sie von einer Freundin ein Haus auf Korsika mietete. „Als ich dort ankam, war die Saison vorbei. Ich war alleine in der Anlage und musste mir erst Strom besorgen“, erinnert sich die 62jährige.
18 Monate ohne Radio und Fernsehen. Stattdessen sieben Kilometer am Strand entlanglaufen: „Es war das Großartigste, was ich erlebt habe. Ich habe nichts vermisst.“ Vermutlich waren es diese Einsamkeit und Ruhe, die ein weiteres Talent der umtriebigen Frau zutage förderten – das Schreiben. Kurzgeschichten waren es, die den Grundstein für eine weitere Karriere legten. Eine Gattung, die sie übrigens auch heute noch reizt, weil man sich reduzieren und möglichst präzise erzählen müsse, um auf kleinem Raum eine große Geschichte zu erzählen.
Das Bedürfnis, etwas zu Papier zu bringen, ließ sie jedenfalls auch dann nicht mehr los, als sie von Korsika nach Bielefeld zurückkehrte. Aus den Kurzgeschichten wurden Krimis, die ohne übel zugerichtete Leichen auskamen und durch einen leisen, präzisen Stil auffielen. Aber gleichzeitig Kneipenwirtin und Schriftstellerin – das wurde Mechtild Bormann dann doch zu viel und so entschied sie 2008, sich nur noch der Schreiberei zu widmen.
Ein Entschluss, den sie bis heute nicht bereut hat, zumal sie mittlerweile von ihren Büchern auch leben kann. Dass sie nebenbei Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift „Tentakel“ ist und dem Krimistammtisch Ostwestfalen angehört, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
Sechs Krimis und Romane sowie ein Band mit Kurzgeschichten, die sich in zwölf Jahren angesammelt hatten, sind seitdem erschienen. Voraussichtlich im November dürfen sich Leser auf ein weiteres Buch freuen. „Feldpost“ heißt es, und wieder hat sich Mechtild Borrmann von wahren Lebensgeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg inspirieren lassen.
Ich bin gleich doppelt gespannt – spielt der Roman doch stellenweise in Kassel, das einige Jahre auch meine Heimat war.
P.S.@ Mechtild Borrmann: Mehr Reduktion geht nicht und wäre schade!
