Jahre mit Martha
– Martin Kordić
Empfohlen von Silja Korn
In Jahre mit Martha vereint Martin Kordić gekonnt Coming of Age-, Liebes-, Einwanderungs- und Kriegsgeschichte miteinander. Eine berührende Geschichte über sozialen Aufstieg und Machtverhältnisse.

Ende der 1990er-Jahre in Deutschland versucht Željko, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Mit fünfzehn verliebt er sich in die deutlich ältere Martha, bei der seine Mutter als Reinigungskraft arbeitet. Martha verfügt als Professorin über das, was er sich am meisten wünscht: uneingeschränkten Zugang zu Bildung. Denn Željkos Eltern sind aus Herzegowina eingewandert und führen mit ihren Kindern ein Leben am Existenzminimum. Seine Mutter hat mehrere Putzstellen gleichzeitig, sein Vater ist viel auf Baustellen unterwegs und wenig präsent. Die besondere Beziehung zu Martha wird immer wieder Antrieb sein für vieles in Željkos Leben und ermöglicht ihm ein hohes Maß an Selbstbestimmung, auch in den dunkelsten Zeiten –bis sich sein innerer Kompass umstellt.
Martin Kordić spielt in seinem zweiten Roman Jahre mit Martha grandios mit unseren Erwartungen an das Gefälle in einer auf Ungleichheiten aufgebauten Beziehung. Weshalb funktioniert diese so lange und wo beginnt, wo endet die Abhängigkeit?
Die ständige innere Zerrissenheit, sich schon als Kind nirgendwo richtig zu Hause zu fühlen, wird Željko lange nicht abstreifen können. Indem er sich bildet, wird er endlich aufsteigen – so die unerschütterliche Hoffnung. Als er seinem Bruder von seinen Träumen erzählt, erhält er eine harte Antwort: Željko solle in seinem Milieu bleiben, andernfalls stürze er die Eltern in den Ruin.
Doch fortan lernt Željko wie besessen. Er sammelt Zeitungen aus Altpapiercontainern und ist Stammkunde der Bücherei. Als ihm ein ersehntes Stipendium tatsächlich zuteilwird, muss er jedoch feststellen, dass seine finanziellen Mittel ohne seine Familie im Hintergrund nicht ausreichen werden. Wieder ist die nie abgerissene Verbindung zu Martha ausschlaggebend für den weiteren Verlauf von Željkos Bildungsaufstieg, sofort übernimmt sie die Bürgschaft für seine Zimmermiete. Doch auch an der Universität wird er seine Herkunft und die damit verbundenen Verletzungen nicht abstreifen können. Er gerät in eine ungesunde Beziehung mit seinem Mentor Alex Donelli, der für Željko ein lang vermisstes männliches Vorbild symbolisiert, das er bewundert und zu dem er aufschaut. Auch sein akademischer Abschluss und eine feste Anstellung bewahren Željko nicht vor seinen inneren Dämonen und dem folgenschweren Absturz, der folgt.Jahre mit Martha ist ein großartiger, vielschichtiger Roman über Einwanderung, Klassenunterschiede, Herkunft, Erwachsenwerden und nicht zuletzt eine außergewöhnliche Liebesgeschichte. Martin Kordić begeistert mit einer Sprache, die sich direkt in die Seele seiner Leser*innen frisst: schnörkellos, dennoch elegant und zärtlich, direkt und unmittelbar.
Für mich ist es DIE Überraschung dieses ohnehin an literarischen Juwelen reichen Bücherjahres. Ich war von Anfang an gefesselt von dieser außergewöhnlichen Geschichte, denn sie ging mir zu Herzen, ohne jemals rührselig zu sein – weil sie die nüchterne Lebenswirklichkeit vieler Einwanderungskinder der zweiten Generation darstellt und beim Lesen so viel Nähe zu ihren ProtagonistInnen schafft. Und dennoch kennt dieser Roman auch heitere und zarte Töne. Bitte unbedingt lesen!
Das nächste Adventskalendertürchen gibt es auf Facebook zu entdecken! 🙂
Dieser Beitrag wurde von Silja Korn wurde für das neue Magazin der Büchergilde geschrieben, für die wir Partnerbuchhandlung sind. Im Dezember erscheint die Büchergilde-Ausgabe dieses Buches, die wir für Sie vorrätig haben werden.